Der sterbende Mensch (Kraus) (Andere Gedichte)
Der Mensch Nun ists genug. Es hat mich nicht gefreut, Und Neues wird es auch wohl nicht mehr geben.
Das Gewissen In einer Stunde endet sich dein Leben, Und du hast nichts gesühnt und nichts bereut.
Der Mensch Bereuen kann man nur, was man getan. Ich habe nichts erfüllt und nichts versprochen.
Die Erinnerung Ich war dein Zeitvertreib. So wurden Wochen Aus Jahren. Denkst du noch? Sieh mich nur an!
Der Mensch Ich sah stets hinter mich, und du warst da.
Warst du nicht da, so schloß ich gern die Augen.
Die Welt Ich schien dir nicht in deine Welt zu taugen. Du sahst nur alles Ferne immer nah.
Der Mensch Und alles Nahe fern. Bleib mir vom Geist! Stell dich nicht vor, ich stell’ dich besser vor.
Der Geist Wenn sie dich plagt, was leihst du ihr dein Ohr? Von mir hast du, von ihr nicht, was du weißt!
Der Mensch Was weiß ich, was ich weiß! Ich weiß es nicht. Ich glaube, zweifle, hoffe, fürchte, schwebe.
Der Zweifel Du fällst nicht, Freund, wenn ich dich höher hebe.
Verlaß dich auf mein ehrliches Gesicht.
Der Mensch Ich kenne dich. Du hast durch manche Nacht Mir eingeheizt und manches Wort gespalten.
Der Glaube Ich aber, glaub mir, hab’ es dir gehalten, Mit meinem Atem dir die Glut entfacht.
Der Mensch Zu viel, ich hab’ die Seele mir verbrannt. Oft wars wie Hölle, oft wars wie der Blitz —
Der Witz Da bin ich schon. Im Ernst, ich bin der Witz. Ich bins im Ernst, und doch als Spaß verkannt.
Der Mensch Wer wäre, was er ist, wo Trug und Wesen
Die Welt vertauscht in jämmerlicher Wahl!
Der Hund Ich bin ein Hund und kann nicht Zeitung lesen.
Der Bürger Ich bin der Herr und wähle liberal.
Die Hure Ich, weil ich Weib bin, von der Welt verachtet.
Der Bürger Weil ich kein Mann bin, von der Welt geehrt.
Der Mensch Nach ihrer Ehre hab’ ich nicht geschmachtet. Und ihre Liebe hat mich nicht verzehrt.
Gott Im Dunkel gehend, wußtest du ums Licht. Nun bist du da und siehst mir ins Gesicht.
Sahst hinter dich und suchtest meinen Garten. Du bliebst am Ursprung. Ursprung ist das Ziel. Du, unverloren an das Lebensspiel, Nun mußt, mein Mensch, du länger nicht mehr warten.
Eingetragen am 08.11.2011 09:33:22 von 2rhyme
Autor: Karl Kraus
Quelle: de.wikisource.org
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