Am Ganges (Andere Gedichte)
Am Ganges. Die Nacht schlug über die Eb’ne Ihr tiefblaues, goldfunkelndes Zelt, Und hinter den heiligen Bergen im Osten Hebt sich klar und dunstlos
Der strahlende Mond. Es wiegt sich sein Licht Auf den Wipfeln dichter Pandanen, Auf den Blüthenbüschen des Thals Und schwimmt in wogenden Streifen
Auf dem leishingleitenden Strom. Eine Insel ruht in den Wassern Nicht allzuferne den schweigenden Ufern, Wandernder Schwäne schattiger Rastort, Von duftenden Ranken
Wonneheimlich umsponnen; Es zittern die Blätter Lautlos im lauen Hauche der Nacht, Und einsam lockt dem Gefährten Des Kokilaweibchens schmelzendes Klaglied. – Da rauschen die Arme des Stroms, Und zwei nackte Menschen schwimmen Von beiden Seiten der Insel zu. Und ein Jüngling taucht Zuerst aus den Wellen,
Und ziehet an’s Land Ein athmendes Mädchen, Und sie grüßen sich jubelnd Mit Kuß und Umarmung. Sie setzen sich nieder
An’s grünende Ufer, Wo das Mondlicht hell Durch überhängende Zweige scheint, Und erzählen sich Vom zürnenden Vater,
Von der wachsamen Mutter, – Und küssen sich lächelnd. Im schwellenden Gras Liegt des Mädchens Leib, Und der Jüngling streift ihr
Von den feuchten Gliedern Die rinnenden Tropfen Und preist ihre Schönheit. Er küßt ihren Nacken, Drückt leis auf des Busens
Goldglänzende Fülle Und preis’t auf’s Neue Die Pracht der Hüften, Dazwischen Kama selbst, Der Gott der Liebe,
Mit dunklen Farben Seinen Bogen gemalt. „Siehst du, Geliebte, Im Spiegel der Bucht Den weißen Lotos,
Wie er sich sehnend Dem Mondlicht öffnet? So erschließe du Vor dem Strahl meiner Augen Deines frischen Leibes
Duftberauschenden Blüthenkelch!“ Und sie lächelt seines Verzückten Stammelns, Hebt neckisch das Haupt
Und beißt seine Lippe Mit den kleinen Zähnen, Daß er in stummem Ringen Zu ihr hinabsinkt In der Blüthenbüsche
Bergenden Schatten. Und still ist’s wieder; Hoch über den Wassern Rauschet der Flügelschlag fliehender Tauben, Und fern aus dem Walde
Schallet des Tigers Zürnendes Murren. Aber die Liebenden Schauen sich lange Glühenden Auges an,
Küssen sich schweigend Die pochenden Herzen Und stürzen sich wieder In’s Reinigungsbad Der heiligen Ganga.
Oed liegt nun das Eiland; In’s zerknickte Gras, An die Stätte der Liebe, Noch warm von des Mädchens Leib, Legt sich im Ringe
Die schlaftrunkene Schlange; In die Wälder des Westens versinket der Mond; Doch des fernen Himalaya Schneeige Kuppen Streifet ein Strahl
Des rosigen Morgens.
Eingetragen am 08.11.2011 09:32:58 von 2rhyme
Autor: Wilhelm Hertz
Quelle: de.wikisource.org
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