Märchentraum (Andere Gedichte)
Märchentraum. Im Walde lag ich Und las tiefsinnend Unter Fliedergebüsch und wilden Rosen Alte verklungene Märchen,
Sehnsuchtlächelnd und zauberheimlich; Las von dem Wundervogel, Dem der zweifelnde Mönch Eine Stunde gelauscht, Und diese Stunde –
War ein Jahrhundert. Und mein Herz beschlich Des neugierigen Wunsches Vermessenes Sehnen, Zu träumen wie er, –
Und also geschah es. Hoch über mir In des Waldes grüngoldiger Nacht Sang es fremden, lieblichen Laut. Ferne nur rauschte die Welt; Aus dem dampfenden Thal, Duftübersponnen, Drang leis und leiser Das Summen des Marktes, Der Hammerschlag der Gewerbe,
Der emsigen Menschheit Mühestöhnen. Durch die Föhrenstämme der Halde Ward mir vergittert Das Bild der blauenden Berge Und der fernen Menschengefilde.
Und mir war’s, als gingen Im süßverzehrenden Zauberklang Lange, lange Jahre Meinem lauschenden Herzen vorüber, Als tilgte die karge Zeit
Mit wenig Minuten Die Schuld eines ganzen Jahrhunderts. – Der Vogel schwieg – Und ich kehrte zurück. Nach deinem Herzen
Zog mich die Sehnsucht, Du Glück meiner sonnigen Jugend! Ich stand auf der Höhe Und blickte hinab In’s Thal meiner Kindheit.
Noch schien es dasselbe Thal meiner Kindheit, – Und doch ganz anders. Noch grüßten wie sonst Die grauen Thürme herüber,
Doch ihr Haupt war grauer, Als wären viel tausend Stürme Seitdem an ihnen vorübergerauscht. Ich trat in die Stadt, In unbekannte, volkwimmelnde Straßen.
Die geschäftigen Menschen alle, Sie staunten mich an, – Und ich kannte sie nicht. Geängstigt frug ich Nach meines Vaters Haus,
Und nach deinem Hause, Du Kind meiner Sehnsucht! Sie staunten mich an, Und verstanden mich nicht. Mir floß eine Thräne,
Sie umringten mich schweigend Und lächelten mitleidig Meines wehträumenden Wahnsinns. Da kam eine Alte vorbei Tief auf den Stab gebückt
Unter dem Druck der Jahrzehnte. Die hörte meine Frage Mit halbem Ohr Und nickte und lächelte seltsam. „Die du suchest,
Sind längst gestorben, Längst begraben, Längst vergessen. Mir erzählte man einst Als Ammenmärchen
Von der irrsinnigen Braut, Deren Bräutigam verschollen im Walde. Dort in der Gasse Steht noch ihr Haus, Draußen am Thalend’
Find’st du die Gräber.“ Da griff ich mir schwindelnd An die brennende Stirne, – Und sie war kahl und furchenvoll, Meine Hand so welk,
Mein Bart schneeweiß und wallend. Da ging ich stumm Aus der fragenden Menge, Am Hause vorüber, Wo du geweilet,
Wo ich noch gestern Gluthenberauscht An mein wildes Herz geschwungen Deine süße Gestalt, Gesogen von deinen Lippen
Den Hauch der ewigen Liebe. Und das Alles vorüber? Lange, lange vorüber? Noch stand das liebe, Ehrwürdige Haus,
Doch sah’n aus den Fenstern Unfreundliche, fremde Gesichter. Alles vorüber! Lange, lange vorüber! Du mir verloren,
Ich selbst mir verloren, Im Grabe meine Welt! – Und ich wandte mich Mit weinendem Herzen Durch die Rebenhügel
Den steigenden Pfad, Den ich in goldener Abendzeit So oft gewandelt mit dir. Nach der Rosenstaude sucht’ ich An der alten Weinbergmauer,
Wo die Drossel schlug, Und das Heimchen sein träum’risches Lied sang; Wo wir hinuntersah’n, Arm in Arm, Wange an Wange, In die abendliche Stadt,
In die dämmernde Flur; Wo ich meine Lieder dir las, Oft verwirrt durch dein schwärm’risches Auge; Wo wir mit Lächeln und Seufzen In der Zukunft Tage geblickt.
Ach, die Mauer stand längst nicht mehr, Eine breite Straße führte vorüber. Doch grüßte wieder Abendliches Leuchten Die liebe Stelle.
Und ich stand – und stand. Aus dem Garten zur Seite Jauchzten die Stimmen Fröhlicher Mädchen herüber, – Deine Stimme nicht mehr!
Dort, wo der Nebel spinnt Sein trübes Todtenkleid, Dort grünt dein vergessenes Grab. Und ich – was soll ich hier? Ausgelöscht im Buche der Lebenden,
Ein uralter, verdorrter Stamm Mitten in der blühenden Welt. Keine Seele für mich! Kein Trost, keine Hoffnung! Und wieder klomm ich zurück zum Wald,
Zum bösen Orte des Zaubers. Die Sonne sank hinter mir, Und ich legte mich wieder Unter Fliedergebüsch und wilde Rosen. Doch drunten im Thal meiner Heimath, Meiner längst verlorenen Heimath, Klangen hold und friedlich Die alten Glocken, Selige Klänge aus ferner Kindheit; Und zu längerem Schlummer
Neigt’ sich mein Herz, Eingelullt in melodischer Wiege. Träume umfingen mich Todesselig. Aus ferner Vergangenheit
Breiteten sich lockende Arme Sehnsüchtig herüber. Aus dem verschwingenden Klang Hörte ich schmeichelnde Worte Unaussprechlich für Menschenlippen.
Der Klang verklang, Mein müdes Haupt sank nieder. Kaum hörbar murmelte noch Geheime Schlummersprüche Der ewige Wald.
Eingetragen am 08.11.2011 09:34:34 von 2rhyme
Autor: Wilhelm Hertz
Quelle: de.wikisource.org
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